· Philipp Leser
Warum Energy MPC?
Wie ein prädiktiver Ansatz Ihr Energiemanagement und Ihre Energiebeschaffung optimieren kann.
Laut einer PwC Studie sehen 34 % der befragten mittelständischen Führungskräfte ihr energieintensives Unternehmen als aktuell gefährdet. Eine ähnliche Befragung der KFW Bank wiederum besagt, dass 47 % (im verarbeitenden Gewerbe sogar 52 %) der Unternehmer hohe Energiekosten als größtes Risiko für ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit betrachten.
Wenn Sie etwas mit der Energiebeschaffung für solch einen energieintensiven Mittelständler zu tun haben, brauchen Sie jetzt wahrscheinlich keinen altklugen Blog, der Informationen wiederkäut, die Sie selbst schon aus erster Hand haben oder jederzeit im Netz beschaffen könnten. Ich gehe davon aus, dass die Leser dieses Artikels schon festgestellt haben, dass sich die Welt geändert hat. Und auch wissen oder zumindest vermuten, dass die geplanten energiewirtschaftlichen Reformen der EU zu weiterem Anpassungsdruck führen werden.
Massive Änderungen sind im besten Fall nur unbequem, im schlechtesten Fall gefährden sie den Fortbestand eines Unternehmens. Jetzt kann man über Regierungen schimpfen und sich die Kohlekraft zurückwünschen, oder man stellt sich die Frage, warum China die aktuelle Marschrichtung beim Ausbau der Regenerativen eingeschlagen hat. Die alten Zeiten sind wahrscheinlich vorbei.
Was nun? Viele Mittelständer optimieren kontinuierlich (oder wenigstens in regelmäßigen Abständen) ihre Energiebeschaffung, und das schon lange, bevor es zu einem hippen Thema für LinkedIn-Beiträge wurde. Unserer Erfahrung nach ist der energieintensive Mittelstand in der DACH-Region tatsächlich ausgesprochen innovationsfreudig. Warum sehen wir dann nicht mehr flexible Produktion, mehr Energiespeicher, mehr eigene Energieproduktion im Mittelstand? Warum ist die Beschaffung häufig noch immer an große Versorger ausgelagert? Weil es bisher keinen Sinn gemacht hat! Wenn man nachfragt, haben viele sich schon, häufig mehrfach, mit diesen Themen beschäftigt und sie dann erst einmal verschoben. Eben, weil es bisher keine großen Vorteile gebracht hätte und schon gar nicht notwendig war. Der Kostendruck im Mittelstand ist hoch, der Wettbewerb hart, daher sind Prestigeprojekte meist nicht angebracht.
Viele dieser energieintensiven Mittelständler wissen aber eigentlich schon lange, dass ihre Produktionsanlage eigentlich ein Prosumer ist. Man beschichtet Stahl oder presst Kunststoffteile, aber das eigene Unternehmen teilt tatsächlich Eigenschaften mit einem “hybrid power plant” .
Vereinfacht, für einige Unternehmen gilt jetzt schon:
- sie haben Maschinen und Prozesse, die Strom verbrauchen (Maschinen, Serverfarm, …)
- verfügen auch über Anlagen, die Strom erzeugen (Solarzellen auf Gebäudedächern, eigene Windräder, …)
- Geräte, die Strom speichern (Warmwasserspeicher, Wärmepumpen, Batterien für die erste Stufe im Uniterruptible Power Supply )
Die Konstellation aus “hybrider Anlage” und drastischer Änderungen an den Energiemärkten ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance sich vom Wettbewerb abzuheben, den Energieeinkauf langfristig günstiger zu machen, sich von großen Versorgern unabhängiger zu machen und etwaige Flexibilität in der Produktion zu vermarkten.
Model Predictive Control (MPC)
Unter den veränderten Marktbedingungen macht es theoretisch Sinn, die Gesamtheit aus Energieverbrauchern und Energieerzeugern als System zu modellieren und zu optimieren. Wie bereits erwähnt: Dass wir dies nicht schon überall beobachten könnten, ist nicht der Tatsache geschuldet, dass der Mittelstand in der DACH-Region das nicht auch sehen würde. Der Aufwand und die Risiken standen bisher in keinem Verhältnis zum möglichen Nutzen, denn die Notwendigkeit war einfach nicht gegeben. Hidden Champions sind da, wo sie sind, weil sie sich eben häufig auf ihr Kerngeschäft konzentrieren.
Unserer Ansicht nach ist es sinnvoll, sich als energieintensives Unternehmen schrittweise dem Thema Energiebeschaffung zu nähern. Das Feld ist (leider) intransparent und Energiemärkte komplex. Nicht jeder kann auf Anhieb die exakten Spezifikationen für alle Energieprodukte im Regelenergiemarkt (FCR, aFRR, mFRR, …) herunterbeten oder weiß nicht exakt, was ein Direktvermarkter macht. Viele lagern Teile aus der obigen Abbildung aus, beispielsweise an Direktvermarkter . Der innovative Dienstleister Flexpower bietet unterschiedliche (und meiner Meinung nach faire und transparente) Lösungen an, den Einkauf zu handhaben.
Das Feedback aus unserem Umfeld zeigt aber auch: Es gibt Unternehmen, die ihr Energiemanagement und Beschaffung selbst in die Hand nehmen wollen. Für große, energieintensive Unternehmen ist das nichts Neues, beispielsweise haben die Deutsche Bahn und BASF schon lange eigene “energy trading desks” (Handelsabteilungen oder Handelsunternehmen). Mittelständler mit hybriden Kapazitäten in ausreichender Größe ziehen langsam nach. Natürlich kann und soll kein Mittelständler das sofort alles umsetzen.
Wenn die Entscheidung nun getroffen wurde, die Energiebeschaffung in die eigene Hand zu nehmen, benötigt man eine Strategie für die Umsetzung. Unserer Meinung nach sollte der Mittelstand dieses Vorhaben in kleinen Schritten angehen. Stark vereinfacht gibt es die folgenden Ausbaustufen:
-
Prognose: Auch wenn externe Dienstleister in der Beschaffung unterstützen, ist eine möglichst gute Prognose des Netto-Eigenverbrauchs notwendige Bedingung für alle weiteren Schritte. Hier gibt es oft mehr zu tun, als man als Außenstehender eventuell vermuten würde.
- Verbrauchs- und Plandaten müssen aufbereitet und zusammengeführt werden. Eventuell sind noch andere Daten nützlich, um den eigenen Verbrauch zuverlässig prognostizieren zu können.
- Kommt eigene Energieerzeugung hinzu, muss hier prognostiziert werden. Prognosen für Solaranlagen sind ein gut entwickeltes Feld und es ist meist sinnvoll dafür einen spezialisierten Anbieter zu verwenden. Dessen Prognosen müssen dann in das Gesamtsystem übernommen werden.
- Sind zusätzlich Speicherkapazitäten verfügbar, muss auch dies modelliert und prognostiziert werden. Beispielsweise ist State Of Charge einer Batterie eine Wissenschaft für sich.
-
Beschaffung an den Energiemärkten: Verfügt man nun über eine zuverlässige Prognose für den Stromverbrauch, gilt es daraus, die optimale Beschaffung zu ermitteln. Das ist leider nicht einfach nur “Strom kaufen”. Unabhängig davon, wie gut die Prognose ist, wird sie Fehler machen und impliziert Risiken, die es zu managen gilt. Egal, ob Sie das Risiko nun selbst tragen oder die Beschaffung an jemanden auslagern: Dieses Risiko muss in letzter Konsequenz abgesichert und Fehlleistungen am Regelenergiemarkt ausgeglichen werden, und das kostet Geld. Auch wenn Sie das bisher persönlich noch nie bemerkt haben, war das schon immer so. Speicher wird in dieser Stufe also nur genutzt, um die prognostizierte Lastkurve möglichst genau einhalten zu können und Prognosefehler abzufangen.
-
Optimale Steuerung des Gesamtsystems: Nun kann man anfangen, sich mit der Optimierung des Gesamtsystems auseinanderzusetzen. Nämlich die Minimierung der Energiebeschaffungskosten unter den folgenden Bedingungen:
- eigener Stromproduktionskapazitäten
- eigener Speicherkapazitäten
- Produktionsplanung
- (möglicherweise) Flexibilität in der Produktionsplanung
- Marktpreisen
- anderer Nebenbedingungen (Lärmschutzbestimmungen, Wartungen und Reparaturen, …)
Jeder dieser drei Schritte ist eine beachtliche Herausforderung. Es muss daher kontinuierlich geprüft werden, ob überhaupt genügend Optimierungspotenzial vorhanden ist, um den Aufwand zu rechtfertigen. Unsere bisherige Beobachtung ist: Die Mittelständler, die das Problem angehen können und müssen, können das auch nur selbst gut einschätzen. Die Energiebeschaffung muss wirklich ein zentraler Punkt und Kostentreiber im Unternehmen sein.
Für die erste Ausbaustufe, die Verbesserung der integrierten Prognose, scheint sich der Aufwand meistens zu lohnen. Es wird in Zukunft auf jeden Fall nützlich sein, den eigenen Nettoverbrauch gut vorhersagen zu können. Stromproduktion und Stromverbrauch müssen sich im Netz kontinuierlich decken und genaue Angaben über den eigenen Verbrauch sollten in Zukunft honoriert werden. Wie gesagt: Das Risiko verschwindet nicht, es wird nur von anderen getragen. Und diese “anderen” lassen sich natürlich dafür bezahlen, wie bei einer Versicherung. An dieser technischen und ökonomischen Realität führt kein Weg vorbei.
Das Thema Stromhandel ist an europäischen Energiemärkten reichlich komplex, was kein “Bug”, sondern ein “Feature” ist. Das Zusammenspiel zwischen unterschiedlichen Märkten und der eigentlichen physischen Abwicklung des Geschäfts ist daher kompliziert und aufwendig. Abhängig von der Umsetzung benötigen Marktzugang und Datenbeschaffung viel Aufwand. Ich denke, die School of Flex ist hier eine gute Einführung und weitere Ausführungen würden den Rahmen des Beitrags sprengen.
Hat man nun ein Umfeld geschaffen, in dem man relativ präzise den eigenen Verbrauch schätzen und dann flexibel an den Märkten beschaffen kann, ist es möglich den nächsten Schritt zu machen. Wie kann ich meine Produktion, meinen Speicher, meine Energieerzeugung und die Information über Marktpreise nutzen, um Kosten zu minimieren?
Mehrere Eigenschaften machen dieses Optimierungsproblem schwierig:
- es ist ein sequenzielles Optimierungsproblem. Marktpreise ändern sich kontinuierlich und alle Entscheidungen müssen kontinuierlich an neue Informationen angepasst werden. Es handelt sich also um eine Sequenz an Entscheidungen.
- es ist auch ein stochastisches Optimierungsproblem. Dinge wie Wetter und Marktpreise sind nicht deterministisch vorhersagbar und die Prognosen sind mit Fehlern behaftet. Manche Dinge, wie plötzliche Ausfälle in der Produktion oder Probleme an eigenen Anlagen in der Stromproduktion, sind nicht vorhersagbar.
- eine Vielzahl an Nebenbedingungen (lineare und nicht-lineare)
- eine komplexe Zielfunktion
- …
Die oben aufgeführten Punkte machen klar: Es ist hier nicht möglich, mit klassischen Optimierungsverfahren ein exaktes Optimum zu ermitteln. Optimieren bedeutet in diesem Kontext also nur “besser machen als es vorher war”.
Wir haben unser Unternehmen nicht Data Cybernetics getauft, weil es interessant klingt oder wenigstens nicht nur deshalb :). Sondern weil wir denken, dass sich viele Probleme in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik als sequenzielles Entscheidungsproblem definieren lassen. “Sequential decision making” ist eine Subdisziplin der Operations Research und Regelungstechnik (Control Theory, Kybernetik) und somit Teil fast aller Ingenieurdisziplinen. Es finden sich aber auch Anwendungen in der Volkswirtschaftslehre, Informatik oder Biologie. Daher gibt es eine Vielzahl an akademischen Forschungsrichtungen, die alle im Prinzip das gleiche Thema bearbeiten. Ich persönlich fand das Buch Reinforcement Learning and Stochastic Optimization: A Unified Framework for Sequential Decisions sehr interessant und begrüße den Versuch, eine einheitliche und disziplinübergreifende Notation zu finden.
Eine gute Formulierung des Problems ist zwar notwendig, aber nicht hinreichende Bedingung zur Lösung des Problems. “KI-Feenstaub” wird das Problem ebenfalls nicht lösen, auch wenn viele PowerPoint-Folien und LinkedIn-Beiträge das Gegenteil behaupten.
Für unseren Lösungsansatz verwenden wir den Begriff Model Predictive Control . Das ist tatsächlich nicht ganz korrekt, denn in Theorie und Praxis ist MPC meist etwas strenger definiert. Fast immer wird davon ausgegangen, dass man über ein exaktes mathematisches Modell des dynamischen Systems verfügt, also ein System an Differenzialgleichungen. Das ist in vielen Fällen leider nicht möglich. An der Stelle eines DGS treten in unserem Fall eine Kombination aus Simulationen von Digital Twin Modellen und Machine Learning Modellen und anstelle eines NLP Solvers muss man leider auf spezifische Optimierungsalgorithmen oder Meta Heuristiken zurückgreifen. Daher muss das Prognosesystem auch simulative “wenn-dann” Fragen beantworten können. Der bessere Begriff wäre wahrscheinlich “Data Driven and Simulative Predictive Control”. Finden wir aber etwas zu sperrig ;).
Bei MPC wird ein prädiktives Modell genutzt, um eine Sequenz an möglichen Entscheidungen zu simulieren und daraus eine Verbesserung zu ermitteln. Die Entscheidungssequenz wird mit dem Eintreffen aktueller Informationen erneut optimiert.
Dafür benötigt man nun die folgenden Bausteine:
- ein “plant model”. Ein Modell der hybriden Anlage und aller relevanter Komponenten.
- einen “optimizer” Modul, das eigentliche Optimierungssystem.
- Systeme, um beide Komponenten mit Daten zu versorgen.
- Überwachung und Anomaliedetektion für alle beteiligten Systeme.
- in manchen Fällen ist es auch sinnvoll, eine separate Zustandsschätzung zu entwickeln.
Hier muss man auch ehrlich sein, denn häufig ist der Begriff “Digital Twin” auch eine etwas überzogene Bezeichnung für eine relativ einfache Funktion, die das Verhalten einer Anlage unter gewissen Eingangsparametern vorhersagt. Wir nennen diese Modelle daher auch “Fundamental-Modelle”, denn Pragmatismus sollte hier an erster Stelle stehen. Der Aufbau der Digital Twins zur Simulation der Verbraucher, Erzeuger und des Speichers benötigt dennoch Domänenwissen und ist viel Arbeit. Aber nur so ist ein prädiktiver Ansatz möglich: Man muss die Auswirkungen einzelner Entscheidungen simulieren können.
Falls die “fundamental Modellierung” der Komponenten durch “Digital Twins” nicht ausreichend sein sollte, kann das plant-model noch ein Machine Learning Modell nutzen, das die Prognosen der Digital Twins und andere Daten als Input nutzt, um die Prognosen zu veredeln und Fehler zu korrigieren. Dafür müssen Daten bereitgestellt und Modelle trainiert werden.
Die Bereitstellung vernünftiger Plandaten und die Integration von bereits vorhandenen Erzeugungsprognosen in ein adäquates Prognosesystem machen sich leider auch nicht von allein. Gleiches gilt natürlich auch für die marktrelevanten Themen.
Auf der anderen Seite muss das dargestellte System nicht komplett für die Anwendung Echtzeit konzipiert sein oder vollständig ohne manuellen Eingriff auskommen. Im Gegenteil. Tatsächlich würden wir von einem zu frühen Fokus auf vollständige Automatisierung dringend abraten. Stattdessen würden wir die Lösung erst einmal als Assistenzsystem im Sinne eines Human in the Loop Ansatzes verstehen. Dies ermöglicht eine schrittweise Umsetzung, bei der jeder einzelne Baustein für sich einen Mehrwert für die Beschaffung und andere Teile des Unternehmens schafft.
Zusammenfassung
Ein eigenständiges Energiemanagement und Energiebeschaffung können sich für einen energieintensiven Mittelständler zu einem enormen Wettbewerbsvorteil entwickeln. Dies benötigt aber Aufwand und Investitionen. Alles auf einmal ändern zu wollen, wird wahrscheinlich jedes Unternehmen überfordern.
Unser MPC Ansatz bietet einen generellen und modularen Rahmen, um dies schrittweise umzusetzen. Es wäre aber natürlich gelogen, wenn wir hier behaupten würden, dass wir (oder andere) hier eine einfache “plug-and-play” Lösung parat hätten. Das ist ein iterativer Prozess, den es für jedes Unternehmen neu zu gestalten gilt. Auch ist der Wechsel zu einer eigenen Energiebeschaffung und optimalen Energiemanagement mehr als Software und Modellierung. Der Prozess beinhaltet organisatorische Veränderungen und meist eine Suche nach Partnern und Dienstleistern.
Wenn Sie sich als energieintensiver Mittelständler für eine Optimierung Ihrer Energiebeschaffung interessieren, würden wir uns freuen, von Ihnen zu hören. Und wenn Sie schon in der Umsetzung sind, wären wir sehr an Ihren bisherigen Erfahrungen interessiert! Let’s talk.